SÜDWEST PRESSE vom 06.07.2022: Gaskrise, Energiepreisschock: Was dem Wirtschaftsstandort droht
Ein Beitrag aus der SÜDWEST PRESSE vom 06.07.2022.
Von Martin Tröster.
Das Ehinger Wirtschaftsforum war hochkarätig und aktuell: Es ging um den drohenden Gasmangel, hohe Energiepreise und die Frage, wie der Standort aus dem Schlamassel rauskommt.
Den Nagel auf den Kopf getroffen hatte Michael Gaßner, als er das Thema für das siebte Ehinger Wirtschaftsforum im Ehinger Business Park entwarf. „Entwicklung der Energiepreise und der Versorgungssicherheit“ war das Thema der Podiumsdiskussion, das mehr als vier Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine aktueller nicht sein könnte. Noch im vergangenen Jahr kam mehr als die Hälfte des benötigten Erdgases in Deutschland aus Russland, nun droht Gasknappheit. Weil Russland Druck auf den Westen macht, der die Ukraine unterstützt.
„Wir haben eine Zeit vor uns, in der es nicht besonders lustig zugeht.“ Stefan Ulreich, Professor Hochschule Biberach
Gaßner ist einer der Geschäftsführer des Ehinger Business Parks und Unternehmensberater. Er hat seine Doktorarbeit zum Thema Energieversorgung geschrieben. Am Dienstagabend diskutierte er mit Stefan Ulreich, der sich als Professor an der Hochschule Biberach mit Energiehandel und Energiepolitik beschäftigt, und mit Dirk Güsewell, der im Vorstand des Energieversorgers ENBW für systemkritische Infrastrktur zuständig ist, also dort, wo es besonders weh tun könnte, wenn die Energieversorung stockt. Petra Engstler-Karrasch, Hauptgeschäftsführerin der IHK Ulm, moderierte den Abend.
Wie wird‘s im Winter?
Den ersten Klartext des Abends sprach Ehingens Oberbürgermeister Alexander Baumann bei der Einführung. „Im privaten Sektor ist vielen noch nicht klar, dass sie ihre Komfortzone verlassen müssen.“ ENBW-Vorstand Güsewell betonte. „Es ist Stehvermögen gefragt. Das ist ein Marathon.“ Professor Ulreich sagte es so: „Die nächsten beiden Winter ist mit massiven Einschränkungen zu rechnen.“ Wobei der übernächste Winter der schlimmere werden dürfte. Denn derzeit seien die Gasspeicher bis zu 50 Prozent gefüllt. Er bezweifelte, dass dieses Niveau in einem Jahr erreicht sein wird. Unternehmensberater Gaßner mahnte: Selbst wenn alle Speicher voll sind, reichten die Vorräte nur für zweieinhalb Wintermonate. Aus seiner Sicht könnten die Flüssiggas-Terminals einen Großteil der Versorgungslücke auffangen.
Es komme aber darauf an, wie kalt der Winter wird – und wie viel Gas man braucht oder einsparen kann, schränkte ENBW-Vorstand Güsewell ein: „Im Blick nach vorne hängt sehr viel davon ab, wie sich Russland verhält.“ Derzeit laufen nur 40 Prozent des möglichen Umfangs durch die Pipeline Nord Stream 1, auch ist noch unklar, wie lange Russland eine im Juli anstehende Routinewartung aus politischen Gründen verzögert: Es sei das erste Mal seit vielen Jahrzehnten, dass Russland beziehungsweise die Sowjetunion die Verträge nicht mehr erfüllt. „Ich will nicht sagen: Wir sollten fest von Mangelsituation ausgehen, aber wir können es auch nicht ausschließen“, sagt der ENBW-Vorstand.
Es bleibt auch hinterher teurer
Verflüssigtes Erdgas wird über Schiffe transportiert, in Wilhelmshaven wird erst jetzt das erste Terminal in Deutschland gebaut. Am Beispiel des Flüssigerdgases erklärte Ulreich, warum die Energie auch nach der akuten Krisenzeit von geschätzten zwei Jahren teurer bleiben dürfte als zuvor: Flüssiggas sei ein weltweiter Markt. Auch in Asien sei bereits jetzt die Nachfrage sehr groß. Dort seien die Energiepreise deutlich höher, jedoch kämen die Industrienationen dort gut damit zurecht. „Die Zeiten des billigen Erdgases sind vorbei.“ Laut Ulreich dürften sich die Gaspreise erst in vier oder fünf Jahren auf einem höheren Niveau als heute stabilisieren. „Aber wir haben eine Zeit vor uns, in der es nicht besonders lustig zugeht.“ Wie hoch der Preis aber sein wird, lasse sich seriös nicht abschätzen.
Wie hart trifft es den Standort?
Sollten die Energiepreise in Deutschland dauerhaft höher sein als in anderen Regionen der Welt, drohe im schlimmsten Fall eine Deindustrialisierung, sagte Berater Gaßner. Etwa, wenn Unternehmen ihre Produktion auf die andere Seite des Atlantiks verlagern, wenn dort die Energiepreise billiger seien. Einen langfristig viel höheren Preis als in anderen Regionen, das halte auf Dauer kein Metallverarbeiter aus. Professor Ulreich ergänzte: „Unternehmen, die es schaffen, damit umzugehen, werden zu Recht überleben, die anderen gehen vielleicht zu Recht unter“ – sofern es ihnen nicht gelinge, ihre Beschaffung von Energie zu ändern, oder wenn nötig die Produktion umzusatteln, um mit weniger Energie klarzukommen. Für Unternehmensberater Gaßner steht fest, dass Energiepolitik nicht nur eine ökologische Frage sei, sondern in hohem Maße auch Standortpolitik. ENBW-Vorstand Güsewell verglich die aktuelle Krise mit der Bankenkrise 2009, als das gesamte Wirtschaftssystem wankte. Damals wurden Banken, die als systemrelevant galten, vom Staat sehr teuer gerettet. Auch deshalb begrüßte Güsewell, dass der Gaslieferant Uniper vom Staat gestützt wird. Denn ansonsten würde der drohende Gasmangel bis zu den Endkunden durchgereicht werden.
Zurück zum Atomstrom?
Professor Ulreich wünscht sich, dass Energiemärkte „weniger ideologisch diskutiert werden“. Er meinte damit aber nicht nur die Gegner von Atomkraft, sondern auch die „knallharten Befürworter“. Aus dem Publikum meldete sich der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Landrat Heinz Seiffert. Er zeigte sich optimistisch: Wenn die Politik, egal welcher Farbe, ihre Ideologien über den Haufen werfe, sehe er gute Chancen, dass Deutschland es packe. Er zeigte sich zuversichtlich, dass dies der Bundesregierung gelingen werde.
ENBW-Vorstand Güsewell sagte, dass die derzeit noch laufenden Kraftwerke so eingestellt seien, dass sie bis zum Jahresende lieferten. Er sieht in der Politik derzeit keine Anzeichen zu einer Rückkehr zum Atomstrom, um weniger Strom aus Gasturbinen gewinnen zu müssen. Für ihn ist sogenannter grüner Wasserstoff die Zukunftstechnologie, die eine bedeutende Wende bringen kann. Wasserstoff gilt als „grün“, wenn die Energie für seine Herstellung erneuerbar ist. „Heute ist Breitband und schnelles Internet der Standortfaktor Nummer eins– in ein paar Jahren ist es vielleicht die Verfügbarkeit von grünem Wasserstoff“, sagte ENBW-Vorstand Güsewell. Berater Gaßner mahnte ergänzend: Auch müsse der Ausbau der Versorgung mit Biogas, mit Photovoltaik und mit Wärmepumpen ein Teil der Strategie sein.
Die Handwerker fehlen
Nur, wer bringt die Anlagen auf die Dächer der Häuser? Dazu meldete sich Torsten Fried aus dem Publikum Fried zu Wort. Er ist Geschäftsführer der ENSAG, einer jungen Firma, die im Business Park sitzt und deren Mitarbeiter Gebäude sanieren. Er beklagt die „Bachelorisierung“ der Bildungswelt, also dass zu viele einen Hochschulabschluss haben wollen, die Ausbildung zum Handwerker aber einen geringeren Stellenwert besitze. Diese Beobachtung stützte ENBW-Vorstand Güsewell: Er beobachte bei Mitarbeitern der ENBW oft, dass praktisch veranlagte Kollegen lieber im Büro arbeiten wollen, weil sie nach Anerkennung strebten. „Wie kann es sein, dass so ein Beruf wie Heizungsbauer nicht attraktiv ist?“, fragte der ENBW-Vorstand.
Im Bild zu sehen: Ehingens OB Alexander Baumann mit den Diskutanten des Ehinger Wirtschaftsforums (von links): der Biberacher Professor Stefan Ulreich, IHK-Chefin Petra Engstler-Karrasch, ENBW-Vorstand Dirk Güsewell und Unternehmensberater Michael Gassner.
Foto: Emmenlauer